Ende Mai wurden in Marokko die Uhren mitten im Hochsommer wieder auf Winterzeit umgestellt, die trotz 30 Grad im Schatten seinen Monat lang wieder die Zeit im Land vorgibt und das Leben der Menschen bestimmt. Für uns im Regionalbüro Marokko/Mauretanien der Hanns-Seidel-Stiftung in Rabat bedeutet dies eine ganz besondere Zeit. Vom 6. Juni bis 6. Juli diesen Jahres feierten Muslime auf der ganzen Welt den heiligen neunten Mondmonat des islamischen Kalenders, der sich Ramadan nennt. Die arabische Bedeutung lautet übersetzt „Der heiße Monat“ und bezeichnet die Zeit, in der laut islamischer Tradition die Herabsendung des Korans durch den Erzengel Gabriel begonnen haben soll. Damit zählt der Ramadan zu den fünf Säulen des Islams: Schahāda (Glaubensbekenntnis), Salāt (Ritualgebet), Zakāt (Armensteuer), Saum (Fasten im Ramadan) und die Haddsch nach Mekka (Pilgerfahrt).
Da ich, die ich derzeit im Regionalbüro der Hanns-Seidel-Stiftung ein Praktikum absolviere, nun seit knapp einem halben Jahr in Marokko lebe, hier ein Semester lang studiert und bereits viel vom Land mitbekommen habe, übten die vielen kleinen Verweise und Erzählungen über diese besondere Zeit schon im Vorfeld eine Faszination auf mich aus. Auch in meinem Studium der International Relations and Management an der OTH Regensburg habe ich mich schon oft gefragt, was sich hinter dem Ramadan wohl verbirgt, auf den ich bislang nur mit Unverständnis reagieren konnte. Nun war ich sehr gespannt, wie ich den muslimischen Fastenmonat in der marokkanischen Hauptstadt Rabat erleben würde. Zunächst galt es, einige der Fragen zu beantworten, die ich mir selbst in Bezug auf den Ramadan schon immer gestellt habe.
Wie wird gefastet?
Während des Ramadans wird von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf Essen, Trinken, Rauchen, Tratsch, üble Nachrede, Schimpfwörter und körperliches Begehren verzichtet. Er ist allerdings auch eine Zeit der spirituellen Annäherung an Gott, in der man Gott durch Koranlektüre und zusätzliche Gebete sehr nahe kommen kann. So kleiden sich die Marokkaner während des Ramadans auch traditioneller, um nicht zu sagen, erheblich konservativer und schauen schönen Frauen auf der Straße auch nicht mehr hinterher – so sagt man zumindest.
Warum wird gefastet?
Zunächst ist der Ramadan ein göttlicher Befehl, den der Koran in den Suren 2:183 – 187 als einen Gottesdienst vorgibt. Gründe für das Fasten sind zahlreich und zeugen vom muslimischen Glauben und dem Streben nach stärkerem Vertrauen in Gott. So ist das Fasten eine Möglichkeit, sich in Selbstdisziplin zu üben und Gottes alltägliche Gaben besser wertzuschätzen. Außerdem zeigen Muslime durch ihr Fasten und die Entbehrung von Luxus ihre Verbundenheit und Sympathie mit ärmeren und bedürftigen Menschen. Denn zahlreichen Suren des Korans zufolge, ist die permanente Bedürftigkeit ein Charakteristikum aller Menschen und Geschöpfe. Zudem ist der Saum (Fasten) neben dem Zakat (Armensteuer) eine der Säulen des Islam, um sich in Großzügigkeit und Barmherzigkeit zu üben. Auch wird Gott für die Herabsendung und Rechtleitung des Heiligen Koran gedankt. Zahlreiche Muslime ziehen sich daher die letzten 10 Tage des Ramadans zum I’tikaf in Moscheen zurück, um den gesamten Koran zu lesen, unterbrochen nur von Essen und Schlaf.
Wer fastet?
Prinzipiell fasten alle gläubigen Muslime und laut einer Kollegin sogar diejenigen, die sonst nicht beten und weniger religiös sind. Ausgeschlossen sind allerdings Kinder, Jugendliche in der Pubertät, Frauen in der Menstruation und Menschen, deren gesundheitliche Situation die körperliche Anstrengung nicht zulässt. Zusätzlich dazu sind Schwangere und Stillende auch vom Fasten ausgenommen, allerdings holen sie das Fasten später nach oder tätigen stattdessen eine angemessen reiche Spende. Vor der Fastenzeit sollte man sich einer gesundheitlichen Prüfung unterziehen, um herauszufinden, ob man für den Ramadan für tauglich empfunden wird.
Was passiert wenn man nicht fastet?
In Marokko gab es in den letzten Jahren vermehrt Fälle von Gruppierungen, die gegen den Ramadan protestierten, in dem sie zu öffentlichen Picknicks einluden. Da der Verzehr von Nahrungsmitteln während der Fastenzeiten in Marokko jedoch unter Strafe steht, wurden entsprechende Strafverfahren eingeleitet. Im Strafgesetzbuch steht dies im Artikel 222, der allerdings von Hubert Lyautey aus der Kolonialzeit stammt, mittlerweile jedoch von vielen Marokkanern gebilligt wird. Die Toleranz für öffentliches Fastenbrechen ist gering.
Wie endet der Ramadan?
Am Ende des Ramadan wird Eid ul-Fitr gefeiert, der das Ende des Saum, des religiösen Fastens markiert. Im nächsten Jahr wird der Ramadan 11 Tage früher stattfinden als dieses Jahr, da er sich nach dem Mondkalender richtet. Spannenderweise wird der Beginn des Ramadan auf der Grundlage der malikitischen Rechtsschule in Marokko nicht astronomisch berechnet, sondern mit bloßem Auge von den Rechtsgelehrten (Ulema), den Weisen, die den Koran interpretieren, entschieden. Sobald sie nach dem ersten Neumond im Ramadan Monat die Mondsichel mit bloßem Auge erkennen können, wird der Beginn des Ramadan ausgerufen. Die Spannung und Vorfreude bleibt somit bis zuletzt erhalten.
Zwischen Entbehrung und Überfluss
Da der Ramadan wohl kaum von einer Person, in einer Stadt und in nur einer Fastenzeit vollständig erfasst werden kann, ist dies nur eine Annäherung an einen großen Begriff, hinter dem sich vieles verbirgt. Es wurde jedoch schnell deutlich, dass es für die Marokkaner um mich herum eine ganz besondere Zeit war, die bei mir starke Eindrücke hinterlassen und mich sehr geprägt hat.
Wenn ich an die letzten Wochen denke war wohl der beeindruckendste Abend der, an dem ich ganz zufällig zum F’tour eingeladen wurde. F’tour bedeutet eigentlich Frühstück und meint das Mahl zum Fastenbrechen, das exakt auf den Zeitpunkt des Sonnenuntergangs fällt, an jenem Tag exakt auf 19.47 Uhr in Rabat. Gemeinsam mit Freunden machte ich mich auf den Weg in die Stadt, um dort die Abendstimmung zu genießen, kam jedoch nicht einmal hundert Meter weit. Ibrahim, der Gemischtwarenhändler, der in unserer Straße im Herzen von Rabat viele Menschen versorgt, lud uns ein, mit ihm zu die erste Mahlzeit des Tages zu teilen. Obwohl wir auf dem Weg in die Stadt waren, konnten wir kaum der berühmten marokkanischen Gastfreundschaft entfliehen und nahmen die herzliche Einladung gerne an. In dem kleinen Raum des Tante Emma Ladens warteten wir auf den Muezzin, der täglich fünf Mal Muslime zum Gebet ruft, so auch um 19.47 Uhr an jenem Abend. Ibrahim und sein Bruder hatten seit morgens früh um halb 4, dem Zeitpunkt des astronomischen Frühlichts, nichts mehr gegessen, beteuerten aber, sie hätten eigentlich gar keinen großen Hunger und teilten gütig ihr F‘tour mit uns.
So gab es Avocado-Saft, Orangensaft, Milch, Minztee, Datteln, Feigen, Fleischbällchen, Brot, Gemüse, die obligatorische marokkanische Suppe, Harira, und vieles mehr. Für uns Internationale, die wir den ganzen Tag lang gegessen hatten, war dies natürlich viel zu viel des Guten, für unsere Gastgeber jedoch der erste Schluck und der erste Bissen des Tages. So wirkt der Ramadan auf mich wie ein tägliches Paradox aus strenger Entbehrung und nächtlichem Überfluss. Auch die Bäckereien zeugen keineswegs von Entbehrung und bieten deutlich mehr Speisen als normal an. Spannend also, dass die Fastenzeit für viele offenbar nicht darin besteht, auf etwas zu verzichten, sondern eher Ablenkungsfaktoren wie Rauchen oder Konsum auszuschließen, um sich besser auf die Annäherung an Gott und das Gott-Gefallen konzentrieren zu können.
Die Stille des Abends
An einem anderen Tag im Ramadan-Monat gingen wir abends in die Medina, die traditionell arabische Altstadt von Rabat. Da wir gerade mit den Rufen der Muezzins das Haus verließen, versammelten sich wohl gerade sämtliche Familien in ihren Häusern zum gemeinsamen Fastenbrechen. Die Straßen von Rabat, auf denen sonst ein alltäglicher Trubel herrscht, waren plötzlich wie ausgestorben. Nur ein Touristenpaar zog durch die Straßen, abgesehen davon keine Menschenseele weit und breit. Sogar die Avenue Mohammed V, in der sonst zu jeder Tageszeit Menschenmengen einkaufen, schlendern oder gar vor dem Parlament demonstrieren, war wie leergefegt. Auch die modernen Tramways, die sonst im Zehnminutentakt die Stadt durchqueren, standen an der Kreuzung der beiden Linien Rabats still. Das Gefühl so ganz alleine durch die Stadt zu schlendern war nicht nur ausgesprochen spannend, sondern auch unglaublich erhaben und überwältigend.
Erst in dieser Sekunde wurde mir das ganze Ausmaß des Ramadan bewusst. Was zuvor nur Unverständnis weckte, begann ich nun langsam zu begreifen. Es ist keineswegs wie eine christliche Fastenzeit, in der eher auf eine Sache an sich verzichtet wird. Viel eher ist es ein gesamtes Volk, eine gesamte Glaubensgemeinschaft, ja eine ganze Nation, die gemeinsam Enthaltsamkeit übt und sich Gott nähert. Denn genau das ist es, was die Marokkaner über den Ramadan sagen. Dass er eine Zeit ist, in der sie Gott sehr nahe kommen können. Eine Zeit der Spiritualität, der Wertschätzung sowie der Andacht und Bedachtsamkeit.
Im Anschluss an diese atemberaubende Stille begann jedoch jeden Abend eine Zeit der großen Ausgelassenheit. Cafés und Restaurants blieben bis spät in die Nacht geöffnet. So wirkte die Hauptstadt Marokkos komplett auf den Kopf gestellt, doch die Rabatis schienen sich in dieser auf mich sehr paradox wirkende Zeit sehr wohl zu fühlen.
Zusammensein – Ramadan am Strand
Besonders gut kann man den Ramadan auch am Strand von Rabat erleben. Schon lange vor Sonnenuntergang versammeln sich Hunderte von Menschen am schmalen Strandstreifen, der am Fuße der Altstadt am offenen Atlantik liegt. Zahlreiche Tische und Stühle säumen den Sand und soweit das Auge reicht, warteten Familien und Freunde sehnsüchtig auf das Fastenbrechen. Alle haben sie Avocadosaft, süßes Gebäck und Früchte mitgebracht und auf den eng aneinander stehenden Plastiktischen ihre Leckereien ausgebreitet. Kaum verschwindet die Sonne hinter dem Horizont erschallen die Rufe der Muezzine, die aus allen Moscheen der Stadt den Gläubigen das Fastenbrechen ankündigen. Innerhalb kürzester Zeit beginnt um uns herum ein großes Gewühl, das Geplapper verstummt und Hunderte Rabatis dürfen endlich ihre erste Mahlzeit des Tages einnehmen.
Stärker als je zuvor erkenne ich hier den wohl wichtigen Charakter dieses besonderen Monats: Es geht ums Zusammensein, die Familie und das gemeinsame Essen. Nicht nur eine persönliche Annäherung an Gott ist es, was den Ramadan auszeichnet. Viel eher scheint es ein kollektives Gebet, eine geteilte Mahlzeit und das Gefühl zu sein, dass der Glaube alle Menschen verbindet und wir vor Gott letztlich alle gleich sind.
Ein beeindruckender Monat war es also! Eine Zeit voller Unverständnis, Parallelwelt und zahlreicher Fragen. Aber doch auch eine Annäherung an diesen wichtigen Teil des Islam, der auch so viele in Deutschland lebende Muslime jährlich verzaubert.