Hallo zusammen,
vor kurzem hatten Cara und ich unser einmonatiges Indien-Jubiläum! Ein Monat ist schon rum, krass! Ich habe das Gefühl, die Zeit spielt hier verrückt, tickt anders, schneller, unregelmäßiger.
Mir geht es richtig richtig gut hier. Ich bin stolz darauf, das sagen zu können, weil ich weiß, dass es nicht allen Freiwilligen so geht und halte mir das immer wieder vor Augen, um mich nicht „Luxus-Nörgeleien“ hinzugeben.
Naya ghar – neues Zuhause, das sagt sehr viel über meine momentane Situation aus.
Neues Zuhause, das ist in Indien, im Bundesstaat Madhya Pradesh, ein bisschen außerhalb von Indore, im Kasturbagram, im Matachannandevi Hostel. Neues Zuhause ist unser Zimmer dort mit meinem Schreibtisch, unserem moskitogeschützem Doppelbett, meinem Schrank mit Erinnerungen und Fotos von Freunden, meiner neuen indischen Kleidung, meinen Hindi-Lern-Sachen und meinem Laptop mit mittlerweile 4000 Fotos und vielen täglichen Notizen.
Neues Zuhause sind neue Menschen, von denen ich manche Gesichter und Stimmen jetzt schon überall wieder erkennen würde; neues Zuhause ist auch eine unbekannte Sprache, in der ich Tag für Tag mehr Verbindungen knüpfe.
Und dieses neue Zuhause setzt sich vor allem auch aus Tausenden von Eindrücken zusammen, die so langweilig, nichtssagend, leer klingen, wenn man sie niederschreibt, für mich aber doch unheimlich prägend sind.
Da sind unsere neugierigen Blicke in die kleinen, einfachen Lehmhäuser und Wohnungen, die einen plötzlichen Einblick in das Privatleben von unbekannten Menschen aus einem ganz anderen Kulturkreis geben. Eine Mutter, die mit ihren lachenden Kindern auf dem Boden spielt. Ein kleiner Junge, der uns seine abgemagerte Hand geöffnet entgegenstreckt und „One rupie, please?“ fragt. Ein grauhaariger Mann, der orientierungslos in die Gegend schaut. Massenweise Kühe, die in einem Meer von Plastiktüten stehen und sich den Bauch mit Müll und Essensresten voll fressen. Da ist die Tote, die in bunte Tücher gehüllt und mit schönen Blumen geschmückt auf einer Pritsche getragen wird, gefolgt von einer Schar Trauernder. Frauen, überall ein Meer aus Farben; schöne, verzierte Sari-Tücher, roter „Bindi“ auf der Stirn. Die gaffenden Blicke in der Stadt, die uns folgenden Inder im Park, die partout nicht aufhören wollen, Fotos von uns zu machen. Das dauerhafte Auffallen und der Wunsch danach, unsichtbar zu sein. Die Frauen, die in einem engen, geschmückten, verrauchten Raum zusammen sitzen und beten. Stoffhändler, die im alltäglichen Schneidersitz in ihrem extra-schmalen Laden sitzen und Chai aus kleinen Plastikbechern trinken, die danach auf der Straße landen. Zwei sich unterhaltende Männer, die auf Fahrrädern neben einander fahren; der eine den Arm um den anderen gelegt, sodass sie immer neben einander bleiben. „Proton Business School“, riesiges, aufwendiges Gebäude, direkt davor graue, staubige Straße, voll mit Menschen aller Art. Ruinen von riesigen Gebäuden überall, teils schon halb fertig mit aufwendigen Glasscheiben, Chaos, wenn man hineinblickt.
Das sind einige der Bilder – nicht fotografiert. Das sind Bilder im Kopf, die auch so bleiben, die beschäftigen, pieksen, nachdenklich machen. Warum hier, warum nicht in Deutschland? Wie kam es dazu? Veränderung; wenn ja wie? Warum? Wie soll man das verarbeiten? Was halte ich davon? Habe ich überhaupt das Recht, zu urteilen? Sind das die Erfahrungen, wegen derer ich hier bin? Warum will ich das? Warum?
Zum Schluss noch ein kleines Versuchsexperiment. Möge es auch negativ und übertrieben wirken, beinhaltet es doch viel von dem, was hier so los ist. Und ich kann auch sagen, dass wir nach diesem ersten Monat echt schon total abgehärtet sind und uns an vieles wirklich gewöhnt haben, auch wenn das unverständlich klingen mag.
Benutze ab sofort weder Wasserhahn, noch Klospülung, sondern nimm dir einen Eimer, den du in der Dusche immer wieder nachfüllst und spüle damit nun die Toilette ab. Schalte zwischen 3 und 8 Mal am Tag für eine Zeitspanne zwischen 2 Sekunden und 9 Stunden den gesamten Strom aus. Nimm die zwei am ekligsten riechenden Matratzen, die du finden kannst und schlafe auf ihnen; sie dürfen aber zusammen nicht dicker als 2 – 3 cm sein. Wenn es kalt ist, so dusche mit kaltem Wasser, wenn es draußen heiß ist, drehe auf fast unerträglich heiß (du hast Wassertanks auf dem Dach, die sich nach dem Wetter richten). Waschmaschine ist tabu; Waschpaste, Kleiderbürste und steinharte Gallseife gehen auch. Wenn deine Hände gerötet sind, weißt du, dass du aufhören kannst zu waschen; Flecken zu entfernen, brauchst du aber nicht einmal zu probieren.
Trinke auf keinen Fall das Leitungswasser, es ist dreckig und kommt ungefiltert aus dem (wer weiß wie sauberen) Grundwasser. Lege dir also 70 − 80 leere Flaschen unters Bett und denke bei jedem weiteren Schluck, den du aus einer weiteren Bisleri-Plastikflasche nimmst, daran, dass der Flaschen-Friedhof dadurch auch nicht kleiner wird.
Setze außerdem ein paar Riesen-Ameisen in deiner Küche aus, ein paar Motten in dein Mehl, reiße dir ein Büschel Haare aus und verstreue sie so im Zucker, dass du sie erst beim Essen wiederfindest und dann suche dir aus diesen Vorräten die Zutaten für einen Chai: Teepulver/-kräuter/-kügelchen, Zucker, Zucker, nochmal Zucker, Leitungs-Grundwasser und Milch. Diese Milch wurde selbstverständlich in deinem Kühlschrank gelagert, der von unten bis oben versifft ist und während der Stromausfälle natürlich auch nicht funktionierte.
Iss drei Mal am Tag Reis – morgens mit gelbem Kurkuma, Kümmel, Senfkörnern, grüner Chili, krass stark schmeckenden Koriander-Blättern und Zwiebeln (Boha), mittags mit irgendeinem Gemüse und Kartoffeln dazu und abends mit einer wässrigen Suppe mit Linsenmatsche.
Schalte einen CD-Player auf Endlosschleife, der gleichzeitig lautes Kuhglocken-Geläute und schräge Hindi-Musik von dem Hindu-Festival von nebenan, unangenehm lautes Geschrei und Gesinge von 100 Mädchen, die tausend verschiedenen Huptöne der nahe gelegenen Straße und ein dauerhaftes Dröhnen von einem Ventilator abspielt. Stelle die Heizung dauerhaft auf höchste Stufe und benutze einen Luftbefeuchter, sodass es gleichzeitig heiß und schwül ist und du, sobald du aus der Dusche kommst, schon wieder geschwitzt bist.
Wenn nun dein Reisepass und Andenken-Bierdeckel aus Deutschland schimmeln, dann weißt du, du hast alles richtig gemacht.
Wie fühlt sich das an? Und jetzt versuche zu schlafen 😉
Liebe Grüße aus Indien.