Tja, was macht es letztendlich, das so viel beredete Jahr Indien, das Jahr, mit den schwammigen Worten „Kulturschock“ und „Abenteuer“ einzugrenzen versucht wurde? Was macht es mit mir, mit dem Hier und Dort? Verliebt? Verlobt? Verheiratet? Geschieden?
Was bewirkt es, ein gesamtes Jahr lang seine Kleidung von Hand zu waschen? Nur einen Duschhahn zur Auswahl zu haben, der meist aber, wenn überhaupt etwas, dann doch nicht das gewünschte Ergebnis offenbart? Rund um die Uhr mit 100 anderen Mädchen zusammen auf hellhörigstem Raum zu leben?
Wie ist es, von allen Seiten von einer grundlegend so verschiedenen Kultur umgeben zu sein, die man nur Stück für Stück und mit viel Geduld annähernd zu verstehen vermag?
Was bedeutet es, auf einmal – von einem Tag auf den anderen – kaum Vertrautes, Gewohntes mehr um sich zu haben; Freunde und Familie tausende Kilometer weit weg, nur deren Fotos, Briefe und Erinnerungen mit sich tragend?
Was macht es mit mir, von unter dem Fenster und bei jedem Gang an die nächst gelegene Straße oder in die große Stadt, Gestank zu vernehmen, wie ich ihm vorher nie ausgesetzt war? Einen toten, verwesenden Hund zu sehen, der mit allen Beinen von sich gestreckt und von um einiges weniger verwesendem Plastikmüll umgeben neben der Straße im Graben liegt. Auf dem alltäglichen Weg vom Hostel zum Hauptbereich des Kasturbagrams über ein Hundegebiss zu stolpern und an die vielen Hunde denken zu müssen, die schon verschwunden sind?
Wie wirkt sich das Erlernen einer komplett neuen Sprache aus, die, abgesehen von ihrem großen Prozentteil englischer Wörter, wirklich keinerlei Ähnlichkeit zu den anderen mir bekannten Sprachen erkennen lässt? Eine Sprache, die Alltag wird, Ausdruck, Verständigung, Schlüssel zu sonst verborgenen Schatzkisten? Worte, über die sich so unfassbar von allen Seiten gefreut wird, wegen derer man umso mehr akzeptiert und aufgenommen wird.
Was bewegt es in mir, mitten in einer fremden Stadt einer unbekannten Person zu begegnen, von ihr zunächst nur einen neugierigen Blick, in Sekundenschnelle aber ein von Herzen strahlendes Lächeln geschenkt zu bekommen – und das unzählige Male, wieder und wieder?
Wie ist es, wenn Fremdes zu Vertrautem wird? Wenn Gewohnheit einsetzt, einen Schleier der Geduld und des Verständnisses über vorher Unfassbares, Unverstehbares wirft?
9 Monate in Indien, meine erste Indien-Erfahrung, der erste Akt meines eigenen, ganz persönlichen Indien-Schauspiels voll mit Hauptpersonen, Nebencharakteren und Drehorten neigt sich so langsam dem Ende zu. In drei Monaten werde ich wieder in Deutschland sein – Back Home, diesmal richtig.
Und dennoch merke ich, dass diese Zeit sehr vieles verändert hat. Unfassbar viel, unzusammenfassbar viel. Ich weiß, dass ich mich verändert habe, kann es aber nicht definieren. Ich weiß, dass ich älter, selbstständiger, erfahrener geworden bin, gewachsen an den vielen Prüfungen und Herausforderungen. Aber dennoch kann ich es nicht in Worte fassen. Kann es noch nicht klar sehen, noch nicht fassen.
Eines ist jedoch sicher. Zurück geht nicht. Nie wieder werde ich einfach so ohne eine riesige Ladung Gefühle, Bezüge und Erinnerungen an Indien denken können. Wohl auch nie wieder in Konsumrausch untergehen, immer mehr und besseres haben wollen, ohne daran zu denken, wo dies alles herkommt und von welchen zarten Fingern es hergestellt wurde.
Immer mehr merke ich auch, dass es für mich nur Deutschland nicht mehr sein kann. Ich will irgendwie mehr. Bin ich einmal in eine andere so vielschichtige Kultur eingetaucht, habe von allem, was man kannte, mal das (offenbar ja genauso gut mögliche) Gegenstück gesehen, es vielleicht schätzen gelernt, vielleicht verteufelt, vielleicht sogar übernommen, dann wird diese zweite Ebene immer bleiben. Ich werde darauf zurück greifen, vermutlich zum Beispiel wütend werden, wenn sich über die Verspätung weniger Minuten der Bahn, des Busses, einer Person aufgeregt wird, weil hier unser Zug einfach mal ganze vier Stunden später abfuhr ohne irgendeine Möglichkeit, dagegen etwas zu unternehmen. Möglicherweise vor dem Bettelnden auf der Straße stehen und mir denken, wie gut er es eigentlich doch hier hat.
Auch wenn ich es noch nicht klar sehen kann und den Weg dorthin noch nicht kenne, weiß ich nun mittlerweile schwammig, dass ich irgendwas mit Indien, mit Benachteiligten, mit Frauen und Kindern arbeiten möchte. Dass ich nicht mein ganzes Leben nur in Deutschland bleiben kann, dass ist raus muss, die Welt sehen möchte. Ich merke, dass hier für mich ein unfassbarer Schatz liegt, dass es mir Spaß macht, anderen etwas beizubringen, die lernen wollen, die Spaß daran haben.
Dieses einfache Leben hier, wie ich es mir vorher niemals hätte vorstellen können, passt mir. Es ist kein Drama mehr, auf einer dünnen Matratze zu schlafen, kein Ding, auf so „selbstverständliche“ Gegenstände wie Waschmaschine, Staubsauger und Spülmaschine verzichten zu müssen. Ich weiß, dass es natürlich nicht von Anfang an einfach ist oder gar Spaß macht, aber es hat seinen eigenen Charme, es funktioniert genauso.
Ich habe in den vergangenen Monaten so unfassbar viel gelernt. Kann nun nähen, spinnen, sticken, stricken, Hindi sprechen und schreiben, kenne mich in Indien ein wenig aus, kann mich in den Kulturen Indiens ein bisschen zurechtfinden, habe Ayurveda kennen gelernt und erfahren, Yoga gemacht, indische Gerichte zu schätzen gelernt, mich in Bollywood und deren Musik verliebt, verzichten gelernt und auch über mich selbst einiges herausgefunden. Hat sich nicht alleine wegen alldem dieses „Jahr in Indien“ schon zur Genüge gelohnt?
Es kommt noch mehr. Ich habe anderen etwas geben können. „Dieses Spiel, Malin, bei dem man mit den Händen einen Knoten macht und dann versuchen muss, den Knoten zu lösen und wieder in einem Kreis zu stehen. Das hat mir gezeigt, dass Probleme, die auf den ersten Blick unlösbar sind, doch am Ende lösbar sind.“ Das hat mir eine Freundin aus dem Hostel geschrieben. Ich habe mit vielen, vielen Kindern und Mädchen sowohl im Kasturbagram, als auch in mehreren der Zweigstellen, gespielt – Gruppenspiele | Outdoor Games | Teambuilding – habe mit ihnen gelacht, habe sie so akzeptiert, wie sie sind, habe über die teils sehr großen Unterschiede zwischen uns hinweggesehen. Habe ihre Freude in mich aufnehmen können, lasse sie in mir wachsen und freue mich wiederum darüber.
Nisha, ein Mädchen aus meiner Singing Class sagte bei Caras Verabschiedung „Malin hat uns Lieder beigebracht. Eines ist zum Beispiel so:“ und singt 2 Monate nach der Class von sich aus einfach so aus dem Stand eines der Taizé-Lieder, die ich mit ihnen gesungen hatte.
Als ich einen Näh-Workshop im Short Stay Home des Kasturbagrams gab, in dem Mädchen und Frauen, die familiäre Probleme haben, unterkommen können, war die Stunde für den Tag beendet und ich ging zum Prayer, doch als ich im Anschluss daran, also eine ganze Stunde später, auf dem Weg zum Hostel wieder dort vorbeilief, sah ich sie noch an der selben Stelle sitzen und zu dritt an der Nähmaschine ihre Taschen fertig nähen.